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about POLWECHSEL
Dass ausgerechnet freie Improvisation, traditionell die Musik der Fülle,
ja der Überfülle, zum zentralen Schauplatz reduktiver Strategien
werden könnte, war schwer vorherzusehen. Immerhin hatten historische
Ensembles wie die Gruppo di Improvvisazione Nuova Consonanza und AMM,
beide Produkt der (Gegen-)Kultur der sechziger Jahre, schon vor Jahrzehnten
die ästhetische Ergiebigkeit reduktiver Ansätze zur real time
music aufgezeigt. Doch sie waren Nebenstimmen im Konzert der improvisatorischen
Emanzipation geblieben, übertönt von lautstarker Free Jazz-Energetik.
In den Neunzigern aber kam in der improvised music zweierlei zusammen:
eine Neuentdeckung dieser überhörten Stimmen. Und eine intensive
erneute Rezeption der Klangwelt der neuen komponierten Musik, insbesondere
der reduktiven Ansätze eines Morton Feldman und Giacinto Scelsi,
aber auch der reichen Geräuschwelt von Helmut Lachenmanns Partituren.
Polwechsel, 1993 in Wien gegründet, war eines der ersten dieser Ensembles
einer Improvisation aus neuem, reduktionistischem Geiste - und auf jeden
Fall eines der meistbeachteten. Zumal es dem Quartett über die Jahre
nicht nur gelang, eine Klammer für neue improvisierte und komponierte
Musik zu schaffen, sondern auch neuere Formen elektronischer Musik zu
integrieren, wie sie nicht zuletzt in der Wiener Clubszene durch Musiker
wie Christian Fennesz oder Christof Kurzmann entwickelt worden waren (Musiker,
mit denen die Polwechsel-Protagonisten dann auch alsbald kreative Kollaborationen
eingingen). Nicht zu vergessen, dass in der ersten «Auflage»
von Polwechsel der wohl radikalste Reduktionist der zeitgenössischen
Musik mitwirkte: Radu Malfatti (sein Platz wurde später vom Londoner
Saxofonisten John Butcher eingenommen).
Polwechsel ist ein Ensemble, das gemeinhin als Improvisationsgruppe bezeichnet
wird - eine Klassifikation, die vermutlich eher den soziomusikalischen
Background der Mehrzahl ihrer Mitglieder reflektiert als die Faktur der
Musik. Stutzig machen könnte einen indes schon die Zuschreibung der
Stücke auf den Polwechsel-CDs. Nur zweiTitel der bisherigen Produktionen
werden als kollektive Schöpfungen bezeichnet; alle übrigen sind
als Komposition eines einzelnen der Polwechsel-Musiker ausgewiesen. Und
nähert man sich der Musik, so offenbart sie eine Strenge und Genauigkeit,
die eine Genese als frei improvisierte Musik unwahrscheinlich macht -
auch wenn zugleich unverkennbar ist, dass die Pol-wechsel-Komponisten
die idiosynkratischen Spieltechniken ihrer improvisations-erfahrenen Kollegen
in ihr kompositorisches Kalkül integrieren. Ein Kalkül zugleich,
das eine reduktive Ästhetik offenbart, die Polwechsel zu einem der
inter-national einflussreichsten Ensembles des Jahrhundertendes machten:
Dass ausgewiesene Improvisatoren so sparsam und präzise mit der Überfülle
ihrer Vokabulare umzugehen und ihre persönlichen Sounds so diszipliniert
in einen Gruppen-kontext ohne jede solistische Nabelschau einzubringen
wussten, war für manche Hörer und Musikerkolleginnen eine regelrechte
Offenbarung. Doch trotz dieser Hinweise, trotz der unübersehbaren
Tatsache, dass Polwechsel mit Partituren und Stoppuhren konzertiert, verfielen
Berichterstatter von Neue Musik-Festivals, bei denen Polwechsel gastierte,
regelmäßig in den Automatismus, das Quartett als skurrilen
Fremdkörper aus der Welt der Improvisation zu betrachten und die
Musik dementsprechend (ratlos) zu kommentieren. Allein die Anwesenheit
eines Saxofons und einer präparierten «table top guitar»
ä la Fred Frith waren offenbar unfehlbare Insignien dafür, dass
es sich um kein «seriöses» Neue Musik-Ensemble handeln
könne.
Peter Niklas Wilson
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POLWECHSEL – Kein Gleichstrom mit der Masse
„Polwechsel“ – nom trouvé einer ursprünglich
rein österreichischen Musikerformation. Sie setzt seit knapp 15 Jahren
markante Statements und neue Maßstäbe in den Grenzregionen
zwischen Komposition und Improvisation, Interpretation und Neukonzeption,
Analogem und Digital-Elektronischem, live Produziertem und live Prozessiertem,
zwischen reduktiver Ästhetik und der ganzen Bandbreite des zur Verfügung
stehenden Vokabulars. Entdeckt auf einem Frequenzmesser, System Hartmann-Kempf
für zwei Stromkreise, weist der Name über seinen (elektro-)technischen
Ursprung hinaus auf ein assoziativ weites Feld: Umpolung, Perspektivenwende,
Kehrtwendung …: upside-down; Schubumkehr, Positionswechsel, Neulandnahme
…: unbeugsames Extrem ...; entweder-oder: Polwechsel.
Ute Pinter
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